• Sa 29 10 2016 •
Das universelle Recht zu verblüffen
Jelena Vesić
Anmerkungen zur Verblüffung: Das universelle Recht zu verblüffen
Ich möchte über verblüffende Gesten sprechen und den daraus resultierenden Zustand der Verblüffung. Solche Gesten und Zustände treten in Situationen auf, in denen Deprivilegierte, Machtlose und Benachteiligte der Gewalt der Macht entgegentreten oder in denen das Machtverhältnis zwischen den Konfliktparteien extrem asymmetrisch ausfällt. Die Geste des Verblüffens ist weder eine Trickserei noch eine Taktik, die während des Verhandlungsprozesses zum Einsatz kommt, sondern der (politische) Akt, der der Unmöglichkeit von Verhandlungen geschuldet ist. Zu verblüffen bedeutet, etwas zu verteidigen, das, pragmatisch betrachtet, nicht vertretbar ist. Es bedeutet den Einsatz für etwas, das vor seiner Ausführung weder Teil der realpolitischen Optionen noch von Gepflogenheiten oder Erinnerungen war.
Für politische Verblüffung zu sorgen, ist oft die einzige Möglichkeit von Deprivilegierten, Machtlosen und Benachteiligten, sich angesichts der Gewalt der Macht „aufrecht zu erhalten“ und den eigenen Standpunkt weder als Nachgeben erscheinen zu lassen noch als einen aus der Opferrolle heraus ertönenden Ruf nach Menschlichkeit noch als speziellen Verhandlungsmodus, sondern als wahrhaftige und starke Verteidigung der eigenen, RECHTMÄSSIGEN Position. Die Geste der politischen Verblüffung wendet sich vollständig ab von der durch die jeweils vorherrschenden Machtverhältnisse produzierten Moral, praktischen Vernunft und dominanten Logik. Der politische Wert der Geste des Verblüffens liegt in ihrem Anspruch auf das im Wirkungsbereich der hegemonialen Rationalität Nichtexistierende, Unmögliche.
Die Verblüffung ist gerade deshalb ein Akt der Freiheit, weil sie in Situationen auftritt, in denen man nichts/alles zu verlieren hat. Das Verblüffen ist die letzte Instanz des Rechts, auf das man sich zur Erhaltung der Freiheit berufen kann. IN FREIHEIT ZU STERBEN und nicht in SKLAVEREI ZU LEBEN, so lautet die ultimative Botschaft der Praxis des Verblüffens. Sie beruht auf der Prämisse, dass die Freiheit wichtiger ist als das Leben. Das heißt ganz klar, die der Freiheit beraubten Subjekte können das menschliche Dasein unter solchen Bedingungen nicht als lebenswert akzeptieren.
Der Begriff der politischen Verblüffung resultiert aus der gemeinsamen Arbeit mit Rachel O’Reilly und Vladimir Jerić Vlidi an dem Forschungsprojekt und der Publikation On Neutrality. Wir haben die Konzepte des politischen Friedens und der aktiven Neutralität in den Gesten der Blockfreien-Bewegung untersucht. Die Politik der aktiven Neutralität widersetzte sich sowohl dem euroatlantischen juristischen Management von politischem Neutralismus als auch der westlichen Friedensideologie. Gleichzeitig führte sie etwas Neues und Unerwartetes ein ‒ „etwas Ungewöhnliches“ ‒, das sich mit Edvard Kardeljs These des blockfreien „dritten Weges“ aus seinem Werk Die historischen Wurzeln der Nichtpaktgebundenheit zusammenfassen lässt. Seine These, eine gewissermaßen zweifache Negation der Machtblöcke, läuft nicht darauf hinaus, den Punkt der idealen „Äquidistanz“ zu den existierenden Machtzentren zu erreichen, sondern der Machtpolitik an sich (aktiv) entgegenzuwirken.
Jelena Vesić ist freie Kuratorin, Autorin, Herausgeberin und Dozentin. Sie war Mitherausgeberin von Prelom – Journal of Images and Politics (2001–2009) und Mitgründerin der unabhängigen Organisation Prelom Collective (2005–2010). Sie ist im Verlagswesen, in der Forschung und in der Ausstellungspraxis tätig und verbindet auf diesen Gebieten politische Theorie und Gegenwartskunst. In ihren Schriften untersucht Vesić die Beziehungen zwischen Kunst und Ideologie in der geopolitischen Kunstgeschichtsschreibung mit dem Schwerpunkt auf experimenteller Kunst und Ausstellungspraktiken der 1960er- und 1970er-Jahre im ehemaligen Jugoslawien und in Osteuropa. Außerdem schreibt sie über künstlerisches Schaffen und Praktiken der Selbstorganisation im Zeitalter des kognitiven Kapitalismus. Ihre neuesten kuratorischen Projekte basieren auf Experimenten mit dem Format der Lecture-Performance, immateriellen Eigenschaften von Exponaten und dem Geschichtenerzählen. Dazu gehören: Oktobar XXX: Exposition–Symposim–Performance (2012–2013); On Undercurrents of Negotiating Artistic Jobs – Between Love and Money, Between Money and Love (2013–2014) und Exhibition on Work and Laziness (2012–2015).